Lebensqualität bei Menschen mit Demenz
Was ist Lebensqualität und woran lässt sie sich bei Menschen mit Demenz messen? Damit beschäftigen sich Martin Nikolaus Dichter und Martina Schmidhuber in ihrer Studie „Das Konzept Lebensqualität von Menschen mit Demenz verstehen – Zwei Ansätze zur theoretischen Auseinandersetzung“ (2016).
Darin analysieren die Forscher zum einen Äußerungen von Menschen mit leichter und mittelschwerer Demenz, die selbst Auskunft darüber gegeben haben, was ihnen wichtig ist und eine Rolle für ihre Lebensqualität spielt. Zum anderen beziehen sie literarische Erfahrungsberichte mit ein, in denen sich Angehörige von Menschen mit Demenz oder Mediziner mit diesem Thema auseinandergesetzt haben und in ihren Erzählungen schildern, in welchen Momenten und bei welchen Tätigkeiten ihnen die Betroffenen als glücklich erschienen.
Familie, Selbstbestimmung und Zukunftsaussichten
Zur Analyse der Selbstauskunft von Menschen mit Demenz ermittelten die Forscher mit Hilfe von Datenbanken und einem eigenen Kriterienkatalog aus über 3000 englisch- und deutschsprachigen Studien neun Studien, die geeignete Zitate für ihre eigene Studie enthielten, weil sie daraus etwas über die Einschätzung von Lebensqualität ableiten konnten. Dabei fanden die Wissenschaftler insgesamt 14 psycho-soziale Faktoren, die für Menschen mit leichter und mittelschwerer Demenz eine Rolle für ihre Lebensqualität spielen und diese beeinflussen können: Dazu gehören das Wohnumfeld, zwischenmenschliche Beziehungen (zur Familie, zum Partner, zu Pflegenden) und soziale Kontakte wie Nachbarn und Freunde, Werte wie Sicherheit, Glaube, Freiheit und Selbstbestimmung sowie weitere Faktoren wie körperliche und geistige Gesundheit, Emotionen (positive und negative), die Freude an Aktivitäten sowie persönliche Zukunftsaussichten.
Bei der Analyse von Erzählungen zum Thema beschäftigten sich die Wissenschaftler mit vier – in Deutschland sehr bekannten – Büchern, die sie aufgrund der direkten Erfahrung der Autoren mit Demenzerkrankten ausgewählt haben: Den Roman „Mein Leben ohne gestern“ der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Lisa Genova sowie den drei Erfahrungsbüchern pflegender Angehöriger „Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger, „Demenz. Abschied von meinem Vater“ von Tilman Jens und „Sind Sie meine Tochter? Leben mit meiner alzheimerkranken Mutter“ von Gabriela Zander-Schneider. Hierbei suchten sie nach Textpassagen über Momente, in denen die beschriebenen Demenzerkrankten sich für Außenstehende erkennbar wohlgefühlt haben. Dies waren häufig kleine Tätigkeiten wie das Kartoffelschälen, gewohnte Rituale wie das Tanzen oder die kleinen Dinge des Lebens wie der Genuss von Kuchen und Limonade.
Unterschiede bei Selbst- und Fremdwahrnehmung beachten
Während die Aussagen der Demenzerkrankten dabei halfen, Faktoren zu identifizieren, die eine Bedeutung für deren Lebensqualität haben, brachten die Erzählungen der Angehörigen diese Faktoren in einen Zusammenhang mit erlebten Situationen. Dabei zeigte sich, dass sich die Selbstwahrnehmung und das individuelle Erleben der Demenzerkrankten stark von der Fremdwahrnehmung durch Menschen ohne Demenz unterscheiden kann: So hat zum Beispiel Selbstbestimmung für Menschen, die sich dazu äußern können, einen sehr hohen Wert, und sie empfinden es als traurigen Verlust der Lebensqualität für Menschen mit Demenz, sobald diese verloren geht. Die Erfahrungsberichte der Angehörigen zeigen aber, dass schwer Demenzerkrankte, die ihre Selbstbestimmung weitestgehend verloren haben, dies nicht mehr als Verlust empfinden (können) und in diesem Fall Lebensqualität und Wohlbefinden aus anderen Dingen schöpfen. Um diese Dinge herauszufinden, kann es Angehörigen und Pflegenden helfen, einen Blick auf die Biografie der Demenzerkrankten zu werden: Häufig bereiten den Betroffenen alte Gewohnheiten Freude, die einfach genug sind, um sie auch trotz Erkrankung noch durchführen zu können, wie zum Beispiel das Singen, das Kartoffelschälen oder das Baden im Meer. Fördert man diese Erlebnisse, lässt sich die Lebensqualität für Menschen mit Demenz erheblich steigern.